Der Schutzengel 

Am Montagabend hatte sich eine Frau gemeldet, und als ich ihr von meinem Apartment in Brooklyn erzählte, war sie sofort bereit, mich am nächsten Morgen dort zu treffen. Wir kannten uns noch nicht, aber das war eine gute Gelegenheit, denn jede Gelegenheit, konnte dein Leben eine neue Richtung geben. Ich sagte meine Termine für Dienstagmorgen ab und fuhr raus nach Brooklyn. Shirley stand schon vor dem Backsteinblock und als wir oben vor der Tür standen hatte ich meine Hände schon an ihren Brüsten. Shirley wollte, dass ich das Fenster schließe. Der Krach in meinem Apartment störte sie. Die Kinder, die im Hof Himmel und Hölle spielten, veranstalteten einen Heidenlärm. Normalerweise dauerte es immer eine Stunde bis ich ihnen näher kam, aber Shirley gab Vollgas. Gerade als sie mir das Hemd herunterreißen wollte, klingelte das Telefon. »Bleib hier«, hauchte Shirley. Hätte sie nichts gesagt, wäre ich wahrscheinlich liegen geblieben. Aber ein Mann muss zeigen was er will und aktiv werden. »Brad«, sagte ich, ohne aufs Display zu schauen. Schon in dem Moment dachte ich, wie blöd von mir ans Telefon zu gehen. »Wo bist du?« Meine Frau war am Telefon: Sie klang hysterisch, so als wäre etwas geschehen. Aber ich blieb ruhig. »Wo bist du?« »Ich bin im Büro Darling«, sagte ich gelassen »Wo soll ich denn sein.« Ich sah zum Fenster und nickte Shirley zu. Gut das ich das Fenster zugemacht hatte. Mein Büro in der Fulton Street ist im Südturm, im 99. Stock. Dort oben hört man normalerweise kein Kindergeschrei. »Im Büro? Bist du sicher?« Meine Frau schrie ins Telefon. »Bist du wirklich ok? Wo bist du?« Ich ging in den Flur. »Warum? Stimmt etwas nicht? Ist etwas mit den Kindern?« Ich musste mit der Stimme lauter werden, damit sie aufhörte zu schreien und mir zuhörte. Plötzlich änderte sich ihr Ton. Jetzt hatte ich sie beruhigt. »Im Büro?« »Ja Darling, wo denn sonst, in einer Besprechung.« »Dann geh mal ans Fenster. Was siehst du da?« Ich schaute durch den Spion. Nicht das ich in diesem Moment schon etwas geahnt hätte: »Jersey, die Freiheitsstatue, den Hudson«, log ich. In Wahrheit sah ich in ein dunkles und versifftes Treppenhaus in Brooklyn. Im Nachhinein hätte ich bei der Wahrheit bleiben sollen. »Dann mach doch mal den Fernseher an.« Ich gab Shirley ein Zeichen. Sie sprang auf. Erst jetzt fiel mir der Unterton in der Stimme meiner Frau auf. »Warte, ich gehe rüber, in die Cafe.. « Eine dicke Rauchwolke brannte aus dem Südturm über mehrere Etagen, ungefähr dort wo ich um diese Zeit am Schreibtisch sitzen sollte. Es musste irgendetwas unvorstellbar Schreckliches passiert sein.

»Sie hat ihnen das Leben gerettet.« Der Scheidungsanwalt machte sich wieder Notizen. Es war sein erster Fall. Ich weiß nicht ob er mich wirklich verteidigen wollte oder ob er es wegen Shirley tat, oder ob er einfach die Gelegenheit nutzen wollte. Es war schliesslich sein erster Fall, und der stand direkt im Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. Septembers.

Veröffentlicht von Gernot

Gernot Weise ist 1970 geboren. Nach einem Studium der Medienwissenschaft, Soziologie und Informatik in Hamburg arbeitet er seit 20 Jahren als Projektleiter und Coach. Er schreibt Kurzgeschichten, Erzählungen und Drehbücher und hat als Produzent und Autor mehrere Kurzfilme realisiert. Nach längeren Stationen in Hamburg und Wien, lebt er heute in Basel, wo er im IT Bereich arbeitet.

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